
Meister Eckhart - Predigt 20 - Von Gott und Mensch20. Von Gott und Mensch [130] Praedica verbum. Man liest ein Wörtlein von meinem Herrn Sankt Dominicus, und Sankt Paulus schreibt es, und es heisst zu deutsch also: »Sprich es heraus, sprich es hervor, bring es hervor, und gebier das Wort.« Es ist eine wunderliche Sache, dass ein Ding ausfliesst und doch innen bleibt. Dass das Wort ausfliesst und doch innen bleibt, das ist gar wunderbar; dass alle Kreaturen ausfliessen und doch innen bleiben, das ist gar wunderbar; dass Gott gegeben hat und dass Gott gelobt hat zu geben, das ist gar wunderbar und ist unbegreiflich und unglaublich. Und das ist recht, und wäre es begreiflich und glaublich, so wäre es nicht recht. Gott ist in allen Dingen. Je mehr er in den Dingen ist, je mehr ist er aus den Dingen; je mehr er innen, je mehr er aussen ist. Ich habe es schon öfters gesagt, dass Gott all diese Welt jetzt ganz und gar erschafft. Alles was Gott je vor sechstausend[130] Jahren und mehr schuf, als Gott die Welt machte, das schafft Gott jetzt zumal. Gott ist in allen Dingen, aber insofern Gott göttlich ist und insofern Gott vernünftig ist, ist Gott nirgends so eigentlich wie in der Seele [und in dem Engel, wenn du willst], in dem Innersten der Seele und in dem Höchsten der Seele. Wo die Zeit nie hinkam, wo nie ein Bild hineinleuchtete, im Innersten und im Höchsten der Seele erschafft Gott die ganze Welt. Alles was vergangen ist und alles was künftig ist, das schafft Gott im Innersten der Seele. Das dritte: arbeite in allen Dingen, das heisst: wo du dich in mannigfaltigen Dingen befindest und anders als in einem blossen reinen einfachen Wesen, dass lass dir eine Arbeit sein; das heisst: Arbeit in allen Dingen füllet deinen Dienst. Das heisst so viel wie: heb auf dein Haupt. Das[134] hat zweierlei Sinn. Der erste ist: leg ab alles was dein ist und gib dich Gott zu eigen; so wird Gott dein eigen, wie er sein selbst eigen ist, und er ist dir Gott, wie er sich selbst Gott ist, und nicht weniger. Was mein ist, das habe ich von niemand. Habe ich es aber von einem andern, so ist es nicht mein, sondern des andern, von dem ich es habe. Der zweite Sinn ist: heb auf dein Haupt, das heisst: richte alle deine Werke auf Gott. Es sind viele Leute, die das nicht begreifen, und das dünkt mich nicht wunderbar: denn der Mensch, der dies begreifen soll, der muss sehr abgeschieden sein und erhoben über all diese Dinge. Dass wir zu dieser Vollkommenheit kommen, das walte Gott. Amen.[135]
Meister Eckhart (auch Eckhart von Hochheim; * um 1260 in Hochheim oder in Tambach; † vor dem 30. April 1328 in Avignon) war ein einflussreicher spätmittelalterlicher Theologe und Philosoph. Schon als Jugendlicher trat er in den Orden der Dominikaner ein, in dem er später hohe Ämter erlangte. Mit seinen Predigten erzielte er nicht nur bei seinen Zeitgenossen eine starke Wirkung, sondern beeindruckte auch die Nachwelt. Außerdem leistete er einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung der deutschen philosophischen Fachsprache. Sein Hauptanliegen war die Verbreitung von Grundsätzen für eine konsequent spirituelle Lebenspraxis im Alltag. Aufsehen erregten seine unkonventionellen, teils provozierend formulierten Aussagen und sein schroffer Widerspruch zu verbreiteten Überzeugungen. Umstritten war beispielsweise seine Aussage, der „Seelengrund“ sei nicht wie alles Geschöpfliche von Gott erschaffen, sondern göttlich und ungeschaffen. Im Seelengrund sei die Gottheit stets unmittelbar anwesend. Eckhart wird vielfach als Mystiker charakterisiert. In der neueren Forschung wird allerdings verschiedentlich betont, dass der unterschiedlich definierte Begriff „Mystik“ als Bezeichnung für Elemente seiner Lehre problematisch, zumindest erläuterungsbedürftig und nur eingeschränkt verwendbar ist. Nach langjähriger Tätigkeit im Dienst des Ordens wurde Eckhart erst in seinen letzten Lebensjahren wegen Häresie (Irrlehre, Abweichung von der Rechtgläubigkeit) denunziert und angeklagt. Der in Köln eingeleitete Inquisitionsprozess wurde am päpstlichen Hof in Avignon neu aufgenommen und zu Ende geführt. Eckhart starb vor dem Abschluss des Verfahrens. Da er sich von vornherein dem Urteil des Papstes unterworfen hatte, entging er als Person einer Einstufung als Häretiker, doch Papst Johannes XXII. verurteilte einige seiner Aussagen als Irrlehren und verbot die Verbreitung der sie enthaltenden Werke. Dennoch hatte Eckharts Gedankengut beträchtlichen Einfluss auf die spätmittelalterliche Spiritualität im deutschen und niederländischen Raum. https://de.wikipedia.org/wiki/Meister_Eckhart
Meister Eckhart - Sprüche und Fragmente Meister Eckhart - Predigt 1 - Vom Schweigen Meister Eckhart - Predigt 2 - Vom Unwissen Meister Eckhart - Predigt 3 - Von der Dunkelheit Meister Eckhart - Predigt 4 - Von stetiger Freude Meister Eckhart - Predigt 5 - Von der Stadt der Seele Meister Eckhart - Predigt 6 - Vom namenlosen Gott Meister Eckhart - Predigt 7 - Vom innersten Grunde Meister Eckhart - Predigt 8 - Von der Vollendung der Zeit Meister Eckhart - Predigt 9 - Ein Zweites vom namenlosen Gott Meister Eckhart - Predigt 10 - Von guten Gaben Meister Eckhart - Predigt 11 - Von unsagbaren Dingen Meister Eckhart - Predigt 12 - Vom Leiden Gottes Meister Eckhart - Predigt 13 - Von der Einheit der Dinge Meister Eckhart - Predigt 14 - Wie Jesus am Stricke zog Meister Eckhart - Predigt 15 - Von der Erkenntnis Gottes Meister Eckhart - Predigt 16 - Von der Armut Meister Eckhart - Predigt 17 - Von Gott und der Welt Meister Eckhart - Predigt 18 - Von der Erneuerung des Geistes Meister Eckhart - Predigt 19 - Von der Natur Meister Eckhart - Predigt 20 - Von Gott und Mensch Meister Eckhart - Predigt 21 - Vom Tod Meister Eckhart - Predigt 22 - Was ist Gott? Meister Eckhart - Predigt 23 - Vom persönlichen Wesen Meister Eckhart vertont: Musikvideos
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