
Meister Eckhart - Predigt 15 - Von der Erkenntnis GottesUnser lieber Herr spricht, dass das Reich Gottes nahe bei uns ist. Ja, das Reich Gottes ist in uns, und Sankt Paulus spricht, dass unser Heil näher bei uns ist, als wir glauben. Nun sollt ihr wissen, wie das Reich Gottes uns nahe ist. Hiervon müssen wir den Sinn recht achtsam merken. Denn wäre ich ein König und wüsste es selbst nicht, so wäre ich kein König. Aber hätte ich die feste Ueberzeugung, dass ich ein König wäre, und meinten und glaubten das alle Menschen mit mir, so wäre ich ein König und aller Reichtum des Königs wäre mein. So ist auch unsere Seligkeit daran gelegen, dass man das höchste Gut, das Gott selbst ist, erkennt und weiss. Ich habe eine Kraft in meiner Seele, die Gottes allzumal empfänglich ist. Ich bin dessen so gewiss, wie ich lebe, dass mir kein Ding so nahe ist wie Gott. Gott ist mir näher als ich mir selber bin, mein Wesen hängt daran, dass Gott mir nahe und gegenwärtig ist. Das ist er ebenso einem Stein und einem Holze, aber sie wissen es nicht. Wüsste das Holz Gott und erkennte es, wie nahe er ihm ist, wie es der höchste Engel erkennt, das Holz wäre so selig wie der höchste Engel. Und darum ist der Mensch seliger als ein Holz, weil er Gott erkennt und weiss, wie nahe ihm Gott ist. Nicht davon ist er selig, dass Gott in ihm ist und ihm so nahe ist und dass er Gott hat, sondern davon, dass er Gott erkennt, wie nahe er ihm ist, und dass er Gott wissend und liebend ist, und der soll erkennen, dass Gottes Reich nahe ist. Niemand soll denken, es sei schwer hierzu zu kommen, wiewohl es schwer klingt und auch wirklich im Anfang schwer ist, im Abscheiden und Sterben aller Dinge. Aber wenn man hineinkommt, so ist kein Leben leichter und fröhlicher und lieblicher; denn Gott gibt sich gar grosse Mühe, allezeit bei dem Menschen zu sein, und lehrt ihn, damit er ihn zu sich bringt, wenn er anders ihm folgen will. Es begehrte nie ein Mensch so sehr nach einer Sache, als Gott begehrt, den Menschen dazu zu bringen, ihn zu erkennen. Gott ist allzeit bereit, aber wir sind sehr unbereit; Gott ist uns nahe, aber wir sind ihm ferne; Gott ist drinnen, aber wir sind draussen; Gott ist zu Hause, wir sind in der Fremde. Der Prophet spricht: »Gott führt die Gerechten durch einen engen Weg in die breite Strasse, dass sie in die Weite und in die Breite kommen, das heisst: in wahre Freiheit des Geistes, der ein Geist mit Gott geworden ist.« Dass wir ihm alle folgen, dass er uns in sich bringe, das walte Gott. Amen.
Quelle:
Meister Eckhart (auch Eckhart von Hochheim; * um 1260 in Hochheim oder in Tambach; † vor dem 30. April 1328 in Avignon) war ein einflussreicher spätmittelalterlicher Theologe und Philosoph. Schon als Jugendlicher trat er in den Orden der Dominikaner ein, in dem er später hohe Ämter erlangte. Mit seinen Predigten erzielte er nicht nur bei seinen Zeitgenossen eine starke Wirkung, sondern beeindruckte auch die Nachwelt. Außerdem leistete er einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung der deutschen philosophischen Fachsprache. Sein Hauptanliegen war die Verbreitung von Grundsätzen für eine konsequent spirituelle Lebenspraxis im Alltag. Aufsehen erregten seine unkonventionellen, teils provozierend formulierten Aussagen und sein schroffer Widerspruch zu verbreiteten Überzeugungen. Umstritten war beispielsweise seine Aussage, der „Seelengrund“ sei nicht wie alles Geschöpfliche von Gott erschaffen, sondern göttlich und ungeschaffen. Im Seelengrund sei die Gottheit stets unmittelbar anwesend. Eckhart wird vielfach als Mystiker charakterisiert. In der neueren Forschung wird allerdings verschiedentlich betont, dass der unterschiedlich definierte Begriff „Mystik“ als Bezeichnung für Elemente seiner Lehre problematisch, zumindest erläuterungsbedürftig und nur eingeschränkt verwendbar ist. Nach langjähriger Tätigkeit im Dienst des Ordens wurde Eckhart erst in seinen letzten Lebensjahren wegen Häresie (Irrlehre, Abweichung von der Rechtgläubigkeit) denunziert und angeklagt. Der in Köln eingeleitete Inquisitionsprozess wurde am päpstlichen Hof in Avignon neu aufgenommen und zu Ende geführt. Eckhart starb vor dem Abschluss des Verfahrens. Da er sich von vornherein dem Urteil des Papstes unterworfen hatte, entging er als Person einer Einstufung als Häretiker, doch Papst Johannes XXII. verurteilte einige seiner Aussagen als Irrlehren und verbot die Verbreitung der sie enthaltenden Werke. Dennoch hatte Eckharts Gedankengut beträchtlichen Einfluss auf die spätmittelalterliche Spiritualität im deutschen und niederländischen Raum. https://de.wikipedia.org/wiki/Meister_Eckhart
Meister Eckhart - Sprüche und Fragmente Meister Eckhart - Predigt 1 - Vom Schweigen Meister Eckhart - Predigt 2 - Vom Unwissen Meister Eckhart - Predigt 3 - Von der Dunkelheit Meister Eckhart - Predigt 4 - Von stetiger Freude Meister Eckhart - Predigt 5 - Von der Stadt der Seele Meister Eckhart - Predigt 6 - Vom namenlosen Gott Meister Eckhart - Predigt 7 - Vom innersten Grunde Meister Eckhart - Predigt 8 - Von der Vollendung der Zeit Meister Eckhart - Predigt 9 - Ein Zweites vom namenlosen Gott Meister Eckhart - Predigt 10 - Von guten Gaben Meister Eckhart - Predigt 11 - Von unsagbaren Dingen Meister Eckhart - Predigt 12 - Vom Leiden Gottes Meister Eckhart - Predigt 13 - Von der Einheit der Dinge Meister Eckhart - Predigt 14 - Wie Jesus am Stricke zog Meister Eckhart - Predigt 15 - Von der Erkenntnis Gottes Meister Eckhart - Predigt 16 - Von der Armut Meister Eckhart - Predigt 17 - Von Gott und der Welt Meister Eckhart - Predigt 18 - Von der Erneuerung des Geistes Meister Eckhart - Predigt 19 - Von der Natur Meister Eckhart - Predigt 20 - Von Gott und Mensch Meister Eckhart - Predigt 21 - Vom Tod Meister Eckhart - Predigt 22 - Was ist Gott? Meister Eckhart - Predigt 23 - Vom persönlichen Wesen Meister Eckhart vertont: Musikvideos
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